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Schweizer Schokolade und die Erfindung einer nationalen Identität

Süss, fein, trügerisch: Wie viel Schweiz steckt wirklich in der berühmten Schoggi?

Veröffentlicht von Andrea Hüsser am 15 Juli 2025
Gast

Kaum ein Produkt steht international so sehr für die Schweiz wie Schokolade. Das Bild von grünen Alpen, glücklichen Kühen und technischer Innovation dient als Symbol für Qualität und Reinheit – und ist doch ein sorgfältig konstruiertes Narrativ. Was also steckt wirklich hinter dem Begriff «Schweizer Schokolade»? Wie viel Schweiz ist tatsächlich in der berühmten Schoggi enthalten?

Beginnen wir mit der Aktualität: Anfang Juli 2025 brachte das Seco für die Schweiz zusammen mit den anderen EFTA-Staaten[1] den Mercosur-Deal[2] unter Dach und Fach – ein Freihandelsabkommen, von dem die Schweizer Schokoladeindustrie voraussichtlich deutlich profitieren wird. Denn damit ist der Weg geebnet für die zollfreie Einfuhr der sogenannten nationalen Erfolgsgeschichte «Schweizer Schokolade» nach Brasilien Argentinien, Uruguay, Paraguay und Bolivien. Ein Schlag ins Gesicht für den lokalen Schokoladesektor Brasiliens, eines der wenigen Länder, das den selbst produzierten Kakao für die eigene Schokolade- und Kakaoverarbeitung verwendet.

Erste Widersprüche

Wer beginnt, über das übliche Narrativ von Schokolade hinauszudenken, stösst schnell auf Widersprüche. Die häufen sich noch mehr, wenn das Wort «Schweizer» vor die Schokolade gehängt wird. Denn die Hauptzutat, Kakao, wächst gar nicht in der Schweiz – auch nicht in der Nähe. Auch das Sinnieren über die Herkunft des Wortes «Schokolade» macht stutzig; stammt es doch ursprünglich aus dem Spanischen «chocolate», das seinerseits wahrscheinlich auf das Nahuatl-Wort «xocolatl[3]» zurückgeht. So ist die Schokolade denn auch ursprünglich nicht in der Schweiz, sondern in Mexiko zum Star geworden – bereits vor 3000 Jahren durch die Olmekische Kultur. Die ältesten Spuren von Kakao als Kulturgut sind mit 5000 Jahren gar noch älter und wurden im oberen Amazonasgebiet an der heutigen Grenze zwischen Ecuador und Peru entdeckt. Seit so vielen Jahren wird Kakao in Süd- und Mesoamerika also bereits als Getränk, in Zeremonien, als Zahlungsmittel, in der Medizin und als Schokolade genutzt.

Wie war das mit der nationalen Erfolgsgeschichte?

Mit diesen an sich schlüssigen Argumenten im Kopf, lese ich die Antwort der KI, auf meine Frage, ob die Schweizer Schokolade tatsächlich als eine nationale Erfolgsgeschichte durchgeht, die klar und deutlich lautet: «Ja, man kann mit Fug und Recht sagen, dass die Schweizer Schokolade eine nationale Erfolgsgeschichte ist.» Die Maschine rattert dann auch ungefragt die dafür gängigen «Beweise» runter und erklärt, wie die Pionierleistungen und Innovationen von Schweizer Chocolatiers wie François-Louis Cailler, Philippe Suchard, Rodolphe Lindt und Henri Nestlé mit Daniel Peter bahnbrechenden Erfindungen die weltweite Schokoladenindustrie prägten – dazu zählten die mechanisierte Schokoladeproduktion, das Conchierverfahren und die Erfindung der Milchschokolade. Was die KI interessanterweise nicht erwähnt, ist die gerissene Marketing-Strategie, welche die Herren gefahren sind, insbesondere Theodor Tobler, der bereits in den 20er-Jahren grosse Summen in Werbung für seine Toblerone investierte.

Die Erfindung des Mythos: Schokolade als Schweizer Identität

Zwei Werbestrategien prägten das Klischee der Schweiz als Schoggi-Land besonders: Exotische Motive, welche die Herkunft des Kakaos symbolisieren, die jedoch oft rassistische und sexistische Klischees zeigten, mehrheitlich über ein imaginiertes Afrika. Über die Jahre gewann das Motiv der Berggipfel und Milchkühen als idyllisches Alpenland inszeniert Überhand– mit folkloristischen Bildwelten fürs Heimatgefühl. Das wirkte beruhigend angesichts von Industrialisierung und Urbanisierung und bildet eine Parallele zur Förderung des volkstümlichen Brauchtums und des Alpentourismus. So wurde aus der Schoggi ein lokales Produkt, das seither der nationalen Identitätsbildung dient.

200 Jahre vs 5000 Jahre

Altersmässig unterliegt die Schweizer Schokoladetradition jener aus Lateinamerika beträchtlich. Vielleicht liegt es an diesem jahrtausendalten Altersunterschied, dass die Schweizer Schokoladeindustrie zusammen mit Chocosuisse über ein Jahrhundert lang, das Narrativ der Schweizer Schokolade als nationale Erfolgsgeschichte prägte und dabei die Verflochtenheit der Welt völlig ausblendete: Nämlich dass die Schweizer Schokolade auf der Aneignung und Weiterentwicklung eines kulturellen Erbes aus Mittelamerika beruht und auf Handels- und Wirtschaftssystemen, die koloniale und postkoloniale Abhängigkeiten beinhalten, aufbaut.

Ohne Sklaven keine Schoggi

Ein Blick zurück zeigt, dass die Erfolgsgeschichte der Schweizer Schokolade untrennbar mit der Geschichte des Kolonialismus und des transatlantischen Sklavenhandels verbunden ist – obschon die Schweiz nie eigene Kolonien besass. Schweizer Kaufleute waren jedoch sehr engagiert im Kakaohandel, waren auch direkt und indirekt am Sklavenhandel beteiligt, finanzierten Expeditionen, betrieben Plantagen und profitierten von der Ausbeutung versklavter Menschen in der Karibik und Südamerika. Auch Schweizer Händler wie Cailler bezogen Kakao für die Schokoladenproduktion aus Plantagen, auf denen Sklaven in Venezuela und Brasilien arbeiteten. Da im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen Schokolade konsumierten, stieg die Nachfrage nach Kakao. Nur durch Sklaverei gelang es den Produzenten in den Kolonien, diese Nachfrage zu befriedigen[4]. Die Gewinne aus diesen Geschäften flossen in den Aufbau von Banken, Versicherungen und Industrien in der Schweiz – darunter auch die Schokoladenindustrie. Noch heute liegt der Kakaohandel massgeblich in der Hand der Schweiz: Einerseits liegen die Hauptsitze von Barry Callebaut und Ecom Trading, zwei der sechs grössten Kakaohändler der Welt, in der Schweiz, andererseits werden konservativ geschätzte 30 Prozent des globalen Kakaohandels[5] über die Schweiz abgewickelt. Dass Ghana für die Schweiz noch heute der wichtigste Partner ist für Kakaohandel, geht zurück auf 1859, als die Basler Mission die Basler Handelsgesellschaft gründete und 1893 erstmals Kakao aus der damaligen britischen Kolonie Goldküste nach Europa verschiffte. Damit war sie entscheidend am Aufbau des Kakaohandels in Westafrika beteiligt. Die von der Basler Handelsgesellschaft mitgeprägten Kartellstrukturen wurden nach der Unabhängigkeit Ghanas vom Cocobod übernommen und verstaatlicht.

Was bedeutet «Schweizer Schokolade»?

Kehren wir noch einmal zurück zur Gegenwart. «Schweizer Schokolade» ist ein geschützter Herkunftsbegriff für Schokolade, die in der Schweiz hergestellt wird. Seit 2017 regelt die sogenannte «Swissness»-Gesetzgebung, wann ein Produkt als «schweizerisch» gelten darf. Für Lebensmittel gilt: Mindestens 80 Prozent des Rohstoffgewichts müssen aus der Schweiz stammen, bei Milchprodukten sogar 100 Prozent. In Angst um Ruf und Ruhm hat sich die Schweizer Schokoladeindustrie stark und erfolgreich für eine Ausnahme eingesetzt, da Kakao bekanntlich nicht in der Schweiz angebaut werden kann. So hat sich die Schokoladeindustrie herausbedungen, dass für ihren Bereich entscheidend ist, dass der «wesentliche Verarbeitungsschritt» – also das eigentliche Herstellen der Schokolade – in der Schweiz erfolgt.

Wie Swissness swissless wird

Eine Tafel «Schweizer Schokolade» kann rechtlich gesehen also zu hundert Prozent aus importierten Rohstoffen bestehen, solange sie in der Schweiz verarbeitet wird. Das Label «Swissness» ist also vor allem ein Marketinginstrument, das das Image der Schweiz als Qualitätsgarant nutzt. Das verfestigt einerseits die aktuelle Handhabung, die Wertschöpfung in der Schweiz zu generieren und die Kakaoproduzierenden Länder weiterhin als Rohstoffproduzent zu halten. Andererseits bekräftigt es das Narrativ, dass es die Schweiz ist, die Qualitätsschokolade herstellt – nicht etwa ein Kakaoproduzierendes Land.

Fazit: Zeit für eine ehrliche Schokolade?

Ohne kritische Auseinandersetzung mit der gewaltvollen Vergangenheit und dem Ausnutzen asymmetrischer Machtverhältnisse zum wirtschaftlichen Nutzen ist eine gesunde Beziehung in aktuellen Zeiten und für die Zukunft schwierig. Das einseitige Narrativ der Schweizer Schokolade bereichert die Schweiz noch mehr, statt dass sie die Wertschöpfung teilt.

Die Geschichte der Schweizer Schokolade ist eine Geschichte von Innovation, aber auch von Verdrängung und Ausbeutung. Die nationale Identität, die sich um die Schoggi rankt, ist ein Mythos, der koloniale Realitäten und globale Ungleichheiten ausblendet. Wer heute traditionelle «Schweizer Schokolade» kauft, konsumiert ein Produkt, das zwar in der Schweiz perfektioniert, aber auf dem Rücken von Kakaobauernfamilien im globalen Süden produziert wurde. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Mythos ist überfällig – nicht nur aus historischer, sondern auch aus ethischer Perspektive.

 

[1] EFTA-Staaten: Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz

[2] Mercosur-Staaten: Brasilien, Uruguay, Paraguay, Argentinien, Bolivien

[3] Das Wort bezeichnete ursprünglich ein Getränk aus Kakao, Wasser und Gewürzen – also das, was wir heute als „Kakaogetränk“ oder „heisse Schokolade“ kennen. Nahuatl ist die Sprache der Azteken. Die Herkunft des Wortes «Schokolade» ist allerdings nicht eindeutig geklärt. Sicher ist: Der Ursprung liegt in den indigenen Sprachen Mittelamerikas, aber die genaue Zusammensetzung bleibt umstritten.

[4] https://www.publiceye.ch/de/tag/schokolade

[5] Transithandel

Über den Autor

Andrea Hüsser ist die Geschäftsleiterin einer kleinen Schweizer NGO, die unter anderem das Schoggifestival ehrundredlich organisiert. Mit ihrem sozial-anthropologischen und journalistischen Hintergrund beschäftigt sich Andrea seit über 15 Jahren mit Schokolade und Kakao im Kontext von Wirtschaft, Menschenrechten und Umwelt – zuerst bei Public Eye, jetzt beim Good Chocolate Hub.
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